Jugendstil als Kunstepoche

Gustav Klimt, Der Kuss, 1907/08, Schloss Belvedere Wien, Foto: wki

Jugendstil als Kunstepoche

Die Kunstepoche um 1900

Auf zwei Seiten führt M. Wallis in seinem Buch Jugendstil die verschiedenen Namen für die kurzlebige Erscheinung an, die grob vom Anfang der 1890er Jahre bis zum 1. Weltkrieg reichte und doch eine solche Kraft entfaltete, dass ihre Einflüsse bis in die Gegenwart zu spüren sind. Allein die Namensvielfalt veranschaulicht, wie sich diese Zeit einer kurzen prägnanten Charakterisierung entzieht: Internationalität und nationale Ausprägungen wie Style anglais, Belgische

Linie klingen ebenso an wie gegensätzliche formale Ausprägungen wie Wellenstil, Stile floréale und Quadratstil oder Versuche, die Epoche an ihre bedeutenden Repräsentanten zu binden wie Style Horta, Style Guimard, Les Styles des Vingt. Das Selbstbewusstsein, einen neuen Stil geschaffen zu haben – Art Nouveau, Style Nouveau, Modern Style, Neustil – steht verächtlicher Geringschätzung gegenüber: Nudelstil, Belgischer Schnörkelstil, Bandwurmstil, Zuckerbäckerstil.

Jugendstil und Art Nouveau

Cover der Münchener Wochenzeitschrift Jugend; Foto: wiki

Von der Namensvielfalt hat sich weitgehend, vor allem in der französischen und englischen Literatur, der Begriff Art Nouveau durchgesetzt, der sich schlicht auf den formalästhetischen Neuansatz dieser Kunstperiode bezieht. Auch in deutschsprachigen wissenschaftlichen Abhandlungen wird er z. T. verwendet. Im Allgemeinen hat sich im deutschen Sprachraum aber der Begriff Jugendstil durchgesetzt, benannt nach der Münchener Wochenzeitschrift für Kunst und Leben Jugend, die erstmals 1896 erschien und eines der Sprachrohre der künstlerischen Avantgarde war. Mehr als in den anderen Namen wird in dem Wort Jugendstil die Aufbruchstimmung und das schwärmerische Pathos jener Zeit greifbar: Die Jugend d. h. die künstlerische Avantgarde rebelliert gegen die Vätergeneration, um einen neuen zeitgemäßen Kunststil zu schaffen, die verloren gegangene Einheit der Künste, die Verbindung von Kunst und Leben wieder herzustellen, ja die zerrissene Welt durch die Kunst zu erlösen.

Die internationale Suche nach einem neuen Stil

Der Jugendstil war eine internationale Erscheinung, deren Zentren sich von Barcelona bis nach Prag, Krakau, Moskau, erstreckten, von Skandinavien bis nach Italien, von Europa bis in die USA nach New York und Chicago. Nach der Auffassung von Curjel entwickelten sich Anfang der 1880er Jahre unabhängig voneinander drei Kraftzentren, davon zwei in Europa – in Großbritannien und Frankreich – und das dritte in Nordamerika.

Formalästhetisch war der Jugendstil eine Gegenbewegung zum Historismus, zur inhaltslosen Wiederholung der traditionellen Stile in der Architektur, zum überquellenden Stilsammelsurium der Inneneinrichtungen, zu der qualitätslosen maschinellen Massenproduktion; in der freien bildenden Kunst eine Gegenbewegung zur konservativen Akademiekunst und zur Überwindung des Impressionismus.

Gustav Klimt, Wasserschlangen I, 1904-07, Österreichische Galerie Belvedere, Foto, wiki

In ihrer Suche nach einer neuen Formensprache entdeckte die Avantgarde eine Fülle von Inspirationsquellen und Themenkreisen:

Eine der bedeutendsten Inspirationsquellen war die Natur in all ihrer Vielfalt, Schönheit und Unergründlichkeit ihres Werdens und Sterbens, ihrer Wachstums-und Fortpflanzungsprozesse. Die Wiederentdeckung der unberührten Natur sollte die Verschmutzung und Bedrohung durch die Industrialisierung vor Augen führen und auch für Momente vergessen lassen. Der Fortschritt von Technik und Naturwissenschaften gab Einblicke in völlig neue Welten z. B. ins Innere des Menschen oder in Unterwasserwelten.

Die Frau faszinierte in ihrer Schönheit, aber auch als vielschichtiges, zwiespältiges, erotisches Wesen, als unergründliches Mysterium, als Weib und Mutter. Die sexuell-erotische Thematik spielte im Jugendstil eine große Rolle auch als Protest gegen die Prüderie und doppelte Moral der Gesellschaft. Hilton Kramer nannte den Jugendstil auch den Erotischen Stil. Ab 1892 eroberte die amerikanische Tänzerin Loie Fuller Paris mit ihren Schleiertänzen. Die wellenförmigen, rhythmisch fließenden Bewegungen des Tanzes wurden von vielen Künstlern thematisiert. Der Kuss und der Tanz waren besonders beliebte Motive (Moser/Berends/Klimt/Rodin/Hoetger/Claudel).


  • Die Sehnsucht nach dem verlorengegangen Paradies, nach stimmungshaftem Erleben ließ Jugendstilkünstler in die Welt der Märchen und Sagen eintauchen, dort nach den eigenen Ursprüngen, nach neuen Formen und Motiven suchen. Diese romantische Traditionsbesinnung brachte eine Woge vorzüglicher Märchen- und Sagenillustrationen in England, Deutschland und Skandinavien hervor und ließ den Formenreichtum der keltischen und germanischen Vergangenheit wiedererstehen. In Deutschland blieb es allerdings nicht bei der Entdeckung eines neuen Motivkreises. Das Neugermanentum mutiert zur politischen Ideologie und wird in den 1930er Jahren zur Rassenlehre pervertiert
  • Keine westliche Kunstrichtung vor dem Jugendstil entnahm ihre Inspirationen so vielen außereuropäischen Kunstbereichen [herv. von Nußbaum], und kein Stil erweiterte […] den künstlereichen Horizont der Menschen der westlichen Welt in vergleichbarem Umfang und veranlaßte sie, […] den >Eurozentrismus< zu überwinden. (Wallis)

Die Tendenzen des neuen Stils

Tendenzen des neuen Stils: Auch, wenn es einen Austausch unter der künstlerische Avantgarde gab, so rang doch jeder Künstler auf seine individuelle Weise um eine neue zeitgemäße Ausdrucksweise. So vielfältig wie die Themen und Inspirationsquellen waren, so vielfältig war das Erscheinungsbild der neuen Kunst des Jugendstils. Eines der künstlerischen Mittel war die Betonung der Linie als Konturierung der Farbflächen oder als eigenständige Ornamentik, langfließende, wellenförmige Linien, Spiralen oder dynamische Liniengeflechte…

Auch wenn die Mehrzahl der Motive der organischen Welt, der Natur, entlehnt war, so kennzeichnet den Jugendstil doch eine naturferne, stilisierte, flächenhafte Wiedergabe der Motive, eine Vorliebe für Asymmetrie und leere Flächen (Einfluß des japanischen Holzschnitts). Gegen Ende des 19. Jahrhunderts tauchen zunächst in Glasgow und Wien neben den geschwungenen die geraden Linien auf, neben den Wellen und Spiralen Quadrate, Rechtecke, Dreiecke und Rhomben, neben der organischen eine geometrische Ornamentik.

Der Maler des Jugendstils war Gustav Klimt. Seine zeitgenössischen Künstlerkollegen der hochklassigen Avantgarde wie van Gogh, Gauguin, Bernard, Ferdinand Hodler, Edvard Munch, Franz Marc, Wassily Kandinsky, Gabriele Münter oder Paula Modersohn Becker kamen

zu ganz anderen formalen Ergebnissen. Mit der deutschen Jugendstilmalerei würde man vermutlich – formal wieder ganz anders – Heinrich Vogeler oder Franz von Stuck assoziieren.

Jugendstil, das war vor allem die Grafik, die Druckgrafik, die Zeitschriften-und Buchillustrationen, die Plakatkunst und der immense Bereich der angewandten Kunst. Kunst und Leben zu verbinden, bedeutete, die gesamten Gegenstände des Alltags von den Möbeln, Tapeten, Gardinen, Geschirr über die Kleidung bis zum

Schmuck alles in den neuen Formen zu gestalten. Es entstanden hochwertige kunsthandwerkliche Einzelanfertigungen, anspruchsvolle serielle Maschinenprodukte nach Entwürfen der künstlerischen Avantgarde, aber auch eine Flutwelle industrieller Nachahmungen von minderer Qualität.